Vetis oder: nur die Harten kommen in den Garten Part 1

Meine Veti-Tochter wollte ja schon immer Tierärztin werden, und juhu, sie hat auch jetzt noch Bock, mich mitzunehmen auf ihre bislang größte Reise, die vor 5 Jahren begann. Nachdem es ja bekanntlich so etwas wie ein 6er im Lotto ist, den Tiermedizin-Wunschstudienplatz zum Wunschtermin in seiner Wunschstadt zu bekommen… also Lotto spielen braucht sie statistisch gesehen in ihrem Leben nicht mehr, denn all das hat sie geschafft, und damit ihr Lifetime-Jackpot-Glück vermutlich ausgeschöpft. 

Superhappy bin ich seit diesem Tag im August 2019, als sie sich im Urlaub zitternd in ihr hochschulstart-Account  einloggte und echt angefangen hat zu schreien, als sie den Zulassungsbescheid gefunden hat. 19 Jahre Leben, und locker 15 Jahre davon mit dem festen Vorsatz, Tierärztin zu werden, rauschten im Zeitraffer an mir vorbei, und ich fing einfach an zu weinen. Ich finde ja, dass es unser Auftrag ist, den Funken, der in uns gelegt ist, am Brennen zu halten und dadurch immer mehr zu Leuchten zu bringen, dass wir ganz viel von dem tun, was uns gut tut und Erfüllung bringt: unterstützende, bereichernde Beziehungen leben, und das in uns zu entwickeln, das entwickelt werden möchte. Ein schöner Gedanke, finde ich. Allerdings steht dem gegenüber, dass dies nur extrem wenigen Menschen auf der Welt überhaupt gegönnt ist, sich über Potentialentfaltung und Erfüllung Gedanken zu machen, sondern sich die meisten den Kopf über die Füllung des Magens zerbrechen müssen, jeden Tag und jeden Tag. 

Nun ist ja nicht damit geholfen, dann selbst dankend abzulehnen, aber auf jeden Fall reden wir zu Hause immer wieder mit unseren Kindern darüber, dass die Privilegien, die sie genießen, nicht nur zu genießen sind, sondern auch ein Auftrag: eben die eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen zum Guten für sich und andere.

Privileg Tiermedizinstudium. Erstes Semester, erster Tag, erste Ansprache an die „Erstis“: Lob und Wertschätzung dafür, dass sie es „geschafft“ haben, hier zu sein. Organisatorisches. Kleine Ausblicke darauf, was sie erwarten würde. Darunter der Hinweis, dass Tiermediziner seit Jahren die Berufsgruppe mit der höchsten Suizidrate sind. Hinweis auf Hilfsangebote. Und dass das ein Teil dieses unglaublich anspruchsvollen Studiums und dieses unglaublich anspruchsvollen Berufes ist. Wenn‘s zu viel wird, sind vielleicht Geisteswissenschaften passender. 

WHAT??? 

Meine Ersti-Veti-Tochter erzählt uns das beim Nachhausekommen mit einer Mischung aus Stolz, Freude und Schaudern. Irgendwie hat es so eine Art Elite-Vibe ausgelöst bei ihr, eine Faszination für eine geheimnisvolle Welt, zu der sie an diesem Tag zum ersten Mal Zutritt erhalten hat. Ein Escape-Room mit vielen schier unlösbaren Rätseln und Aufgaben, wie wir schon bald erfahren würden.  

Bei meinem Mann und mir löst es damals bereits eine Mischung aus Besorgnis und Kopfschütteln aus: was ist denn da bitte für ein systemimmanenter Duktus am Werk, was für eine Geschichte erzählen sich die, die „drin“ sind? Gehäufte Suizide, weil‘s halt ein hartes Studium ist und ein harter Job? Und wer zerbricht, ist halt selbst nicht hart genug? Hm… wir werden das beobachten, denken wir damals. Und denken wir heute noch. Und ich versuch auch noch ein bissel was zu tun. Angefangen natürlich bei meiner Veti-Tochter und mit verlängertem Arm bei ihren Mit-Vetis, mache weiter bei meiner liebsten Vet-Freundin und ihren Mädels in der Praxis. Und hab vor, das auch noch weiter in dieser Bubble zu tun. Nicht ein Vet mehr (eine tolle Initiative in den USA, schau hier: www.nomv.org)!

Zurück zum Escape-Room Veti-Studium. Das erste Anatomie-Testat: Veti-Tochter gut vorbereitet, aber ein Nervenbündel. Gut, ist ja auch das erste Mal, und da weiß man nicht so genau, was einen erwartet, und da unterscheiden sich Kinder und Leute ja doch ganz schön in ihren Skills, damit lässig oder weniger lässig zurecht zu kommen. Trotzdem klappt‘s. Es folgen Testate und Prüfungen in den kommenden Wochen und Monaten Schlag auf Schlag, und zwischendrin ist dann auch mal ein Tiefschlag dabei, und meine Veti-Tochter darf sich zweimal mit demselben Thema beschäftigen, einmal sogar dreimal. Stress pur, sage ich euch, nicht nur für sie. 

Und dann, die besonderen Umstände einer besonderen Zeit lassen wir mal außer Acht: die erste richtig große Hürde: das Physikum. OMG, was das für Fächer sind, und was für Inhalte?! Abends setzt sich die mal mehr, mal weniger zuversichtliche bis verzweifelte Veti-Tochter zu uns auf‘s Sofa und referiert. Biochemie und Physiologie werden zu meinen persönlichen Hate-Fächern, muss ich zugeben, aber vielleicht hätte ich nach dem vielen Zuhören (ich hab von ihr definitiv mehr Vorlesungen darin bekommen als meine Veti-Tochter selbst… Corona sei Dank!) auch antreten können, wenn auch wohl nicht bestehen. Viele andere Fächer habe ich vergessen. Aber dann ist es auf einmal passiert: In 2 Fächern steht sie vor dem Drittversuch. Das ist die echt allerletzte Chance, ihren Traum weiter zu verfolgen. Der absolut nicht vorhandene Plan B macht ihr zusätzlich Panik, und angestrengt versucht sie, sich mit dem Gedanken an eine TMFA-Ausbildung und dann halt lauter so Zusatzzeug wie Pferde-Osteopathie und was noch sonst so möglich ist (und uns selbst regelmäßig viel Geld kostet, weil ich eher unserem Pferdchen einen Massagetermin gönne als mir…) irgendwie mehr schlecht als recht etwas Druck zu nehmen. 

Ich gebe es zu: ich bin nicht gut mit zerplatzten Träumen und verpassten Gelegenheiten. Veti-Tochter und ich starten also eine gemeinsame Plan A-Offensive: viele Flipcharts mit Hunderten Post its mit Zellen, Knochen, Knochenpunkten, Muskeln, Nerven und Organen (dieser Pferdeschädel war echt krass!). Noch verstehe ich ja nicht so viel von der Anatomie der Hunde, Katzen, Pferde, Schweine und Wiederkäuer (lieben Gruß an alle Humanis: auch wenn ihr das nicht glaubt, aber die Vetis haben mindestens 5mal so viel Anatomie zu lernen wie ihr!!!), aber ich verstehe viel von Methoden, Strategien und Prozessen. Mehrere Wochen absolute Druckbetankung, um alles Runterbeten zu können, und die Mutter, die keine Ahnung von dem Ganzen hat, richtet ihren Fokus auf das große Ganze: Zusammenhänge, „schau mal, das hatten wir doch schon hier…“, „oh, das ist vermutlich logisch, weil…“. Wir schlafen wenig in dieser Zeit und sind viel im Gespräch. Der Rest der Familie lässt uns rücksichts- und verständnisvoll in unserem Tiermedizin-Universum. Meine tiefste, allertiefste Bewunderung für euch alle Vetis, die da alleine durchmarschieren! Nie im Leben würde ich das schaffen, das alles zu lernen, was ihr alleine für diese Prüfungen können müsst, und dabei ist das Physikum ja nur die Eintrittskarte in das „richtige“ Studium… Ich wünsche euch allen, dass ihr immer jemanden an eurer Seite habt, um gemeinsam zu lernen, gemeinsam zu kotzen, gemeinsam wieder aufzustehen und gemeinsam zu feiern!

Nächste Woche geht‘s weiter…