Die Tragödie: ein Welpe wird überfahren, 1. Teil

Loki ist ein schokobrauner Labbi – mit 5 Monaten im schönsten Welpenalter. Er ist der erste Hund der Familie, und hat in der kurzen Zeit in seiner neuen Familie in allen 4 kleinen und großen Herzen einen Riesenplatz gefunden. 

Die Welpenzeit ist, wie halt so eine Welpenzeit ist:  alle erleben viele lustige, zärtliche, herzerwärmende und auch echt nervtötende Momente miteinander. Loki hat viel Spaß an den kurzen Trainingseinheiten, die vornehmlich die Mutter  – nennen wir sie Sarah – der Familie mit ihm einlegt. Er lernt schnell, und gut futtermotiviert ist er ja als waschechter Labbi eh. Die Grundkommandos funktionieren schon ganz gut, und auch zurückrufen lässt er sich meistens recht zuverlässig. Und zwischendrin heißt es spielen, spielen, spielen, und kuscheln und schlafen.

Der Unfall

An einem ganz normalen Tag verändert sich das Leben der Familie von einem Moment auf den anderen: Als Sarah kurz den Müll rausbringt, nutzt Loki die Gelegenheit, auszubüchsen. Irgendwie schafft er es, das Gartentor, das sie hinter sich angelehnt hat, so weit zu öffnen, dass er selbst hindurch passt. Die paar Schritte über die Garageneinfahrt bis zur Straße hüpft er fröhlich hinter seinem Frauchen her.

Ob er das tut, weil er hinter diesem Tor ein großes Abenteuer wittert, oder aber es schlichtweg dem Folgetrieb eines Welpen geschuldet ist, der dafür sorgt, dass er es kaum aushalten kann, wenn seine Bindungsperson weggeht und er sie aus dem Blick verliert… wir wissen es nicht. 

Sarah bemerkt Loki, erschrickt und ruft ihn zu sich. Und weil es ja oft ein paar Momentchen dauert, bis so ein junger Hund dann seine Bewegung umlenken kann, ist er quasi im selben Moment bereits auf der Straße. Auf der Straße, auf der am Tag normalerweise nur ein paar Handvoll Autos fahren. Auf der Straße, auf der genau jetzt ein Auto kommt, nicht schnell, aber leider zu schnell für den Fahrer, um rechtzeitig zu reagieren und zu bremsen. Er erwischt Loki frontal. Auf genauere Schilderungen verzichte ich hier – diese entsetzliche Szene kann sich jeder ausmalen. Das Auto kommt zum Stehen, und der vollkommen geschockte Fahrer steigt aus.

Sarah stößt einen furchtbaren Schrei aus und rennt sofort zu ihrem Hundebaby. Loki hat durch den Aufprall so schwere Verletzungen erlitten, dass er praktisch sofort stirbt. Äußerlich sind an sich keine großen Verletzungen zu sehen, aber bald läuft Blut aus Maul und Nase. 

Sarah nimmt Loki hoch, sie weint laut. Der Fahrer tritt zu ihr und sagt immer nur: „ich habe ihn zu spät gesehen, er war plötzlich da…“.

Sarah schaut ihn an und sagt, dass es nicht seine Schuld gewesen sei, sondern ihre. Sie dreht sich um und geht in den Garten. Den Fahrer beachtet sie gar nicht mehr. Ihre Gedanken drehen sich die ganze Zeit nur um eine Frage: „wie soll ich das den Kindern erklären?“

Der Welpe ist tot. Wie geht es weiter?

So weit, so schrecklich. Lasst uns mal genauer draufschauen, was genau in der Wahrnehmung der beteiligten Personen passiert ist.

Beginnen wir mit dem Fahrer: auch für ihn ist dieser Unfall schrecklich und kann traumatisch erlebt werden. Ganz bestimmt war es nie seine Absicht, einen kleinen Hund zu überfahren. Natürlich müssen wir immer damit rechnen, dass uns ein Kind – oder Tier – vor das Auto laufen kann. Aber das bedeutet nicht, dass wir darauf vorbereitet sind, wenn es dann passiert. Nun ist der kleine Hund tot, und der Fahrer ist unbeabsichtigt zum „Mörder“ geworden. Das schreibe ich nicht, weil ich das denke, sondern weil sich das so anfühlen kann. Der Moment, in dem Leben zu Ende geht, schockiert uns in vielerlei Hinsicht. Eine davon ist die Unwiderruflichkeit. Der kleine Hund ist tot, und er wird nicht mehr lebendig. Ein Bruchteil einer Sekunde, und es ist vorbei.  Es hätte auch ein Kind sein können.

Das Gedankenkarussell, das hier losgehen kann, erzählt uns von unseren Ängsten. Lasst uns überlegen, was in dieser Situation hilfreich sein kann, und was eher nicht hilfreich ist. Eher nicht hilfreich scheint mir alles, was den Fokus auf die Schuldfrage lenkt. In diesem Fall gehen wir davon aus, dass objektiv kein Verschulden beim Fahrer vorliegt. Er war schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort, aber das macht ihn nicht schuldig, auch wenn sich das für ihn so anfühlen kann und auch sehr ernst genommen werden muss.

Wie gehe ich aber damit um, wenn er mir gegenüber seine Schuld äußert?

Sicherlich nicht mit „das darfst du nicht mal denken, dich trifft keine Schuld, die soll doch selber auf ihren Hund aufpassen…“.

Nein, was es hier braucht, ist, die Schuldgefühle zuzulassen, weil ich sie nur dann genauer anschauen kann. Nur so können neben schwarz-weiß auch wieder Grautöne, also eine differenzierte Betrachtung möglich werden. Und die braucht es unbedingt, um eine effektive Bearbeitung auf kognitiver und emotionaler Ebene zu ermöglichen. Werden diese (Schuld-)Gefühle nicht zugelassen, wird dies umso mehr zu einem starren Festhalten daran führen.

Wir werden nochmals darauf zurückkommen, wenn wir uns Sarahs Situation genauer anschauen. Ich vermute gerade, dass dies eher nächste Woche der Fall sein wird, damit es hier nicht zu viel wird für uns.

 Mit der Schuldfrage verbunden, aber auch das werden wir bei der Betrachtung von Sarahs Situation genauer anschauen, ist auch das Verhaften in „was wäre, wenn…“-Gedanken.  Wenn ich nur ein halbe Minute später losgefahren wäre…, etc.  Sie sind nicht zielführend, aber sehr verführerisch in der Situation, denn sie vermitteln uns den Eindruck, wir hätten Kontrolle über die unkontrollierbaren Dinge in unserem Leben. Und die haben wir nicht. Damit klarzukommen und nicht in Ängste oder Zwänge zu verfallen, ist eine der Entwicklungsaufgaben in unserem Leben.

Eine andere Variante wäre, der Fahrer braucht für die Brutalität seiner Emotionen ein Ventil, und findet dies in einer anderen Variante der Schuldfrage: er gibt Sarah die Schuld und schreit sie an: „Können Sie denn nicht auf Ihren Hund aufpassen?“… dir fallen bestimmt noch weitere tolle Äußerungen in diesem Moment ein, die einzig und allein dazu dienen, sich ein wenig Oberwasser zu verschaffen, wenn die Selbstregulation ein Totalausfall ist, weil wir überfordert sind. Das ist natürlich von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, aber ich beobachte, dass es eine weit verbreitete Reaktion in so einer Situation rund um Fehler, vermeintliche Fehler und deren Konsequenzen ist. So gesehen emphatisch nachvollziehbar, aber doch: diese Reaktion erzählt meiner Meinung nach von einem großen persönlichen Defizit: jede Situation vor allem danach zu beurteilen, was sie für einen Impact für mich hat, anstatt ganz natürlich auch immer die Perspektive meines Gegenübers mitlaufen zu lassen. Was ist mein Schreck in dieser Situation als Fahrer denn bitteschön in Anbetracht des furchtbaren Schmerzes und der Konsequenzen für die Frau, deren Hund ich gerade überfahren musste?

Naja, das war ein Exkurs. In diesem Fall war es tatsächlich so, dass der Fahrer sehr mitfühlend reagiert hat und zutiefst bestürzt war über seine Rolle in dieser Tragödie. 

Was ihm hilft? Ganz basal: Atmen. Runterkommen. Beistand durch einen Menschen, der keine Antworten gibt auf die Fragen, die gerade auch keine Antworten brauchen. Der einfach da ist, ohne viel zu sagen. Der der Situation gewachsen ist. Der zuhört und versteht, aber auch nicht fragt nach dem, was er nicht versteht in diesem Moment.  Und das hört nicht auf, wenn diese Situation, der Tag vorüber ist, sondern geht weiter, vielleicht mehrere Tage lang. Das braucht unser Verständnis, und auch ganz viel Geduld, weil es uns vielleicht irgendwann mal nervt, und sich Gedanken einschleichen wie „jetzt muss aber auch mal gut sein, oder..?“.

Weil es doch sehr komplex ist… Nächste Woche:

Sarah, ihre Kinder und die Frage der Schuld

ACHTUNG:

Die Schilderung von echten Fällen kann starke Gefühle auch beim Lesen auslösen oder dich an eigene schlimme Erlebnisse erinnern. Wenn du merkst, es wird dir zu viel, unterbrich bitte und suche dir Beistand.

Gerne bei mir, wenn du möchtest, aber natürlich auch bei den Menschen in deinem Umfeld oder zum Beispiel hier: https://www.telefonseelsorge.de/

Wenn du dir nicht so ganz sicher bist, dass das alles noch in einem gut handelbaren Rahmen abläuft, oder du jemanden kennst, bei der oder dem du das vermutest – oder ihr in eurer Beziehung da vollkommen unterschiedlicher Meinung seid: Ich veranstalte regelmäßig online-Themenabende für Tierhalter zu verschiedenen Themen. Darunter ist auch einer, in dem es sich genau hierum dreht. Schau mal rein:

https://deeptalks-blog.de/themenabende-webinare